Venedigs Taucherkolonne fischt im Truben – Was auf dem Grund der Lagunenstadt wirklich liegt
Venedig – Die Stadt, die fur ihre schimmernden Wasserwege, fur Gondeln und romantische Gassen bekannt ist, hat eine zweite, weniger glamouröse Seite. Unter der Oberfläche der weltberuhmten Kanäle liegt eine Welt verborgen, die kaum jemand kennt – außer einer Gruppe engagierter Gondolieri, die sich einmal im Monat in Taucheranzuge zwängen und in das trube Wasser der Lagunenstadt hinabsteigen. Dort finden sie Dinge, die man eher auf einem Schrottplatz oder in einem Museum vermuten wurde: Autoreifen, antike Turen, Haushaltsgeräte und manchmal sogar ein abgeschlagenes Rinderhaupt.

Gondolieri als ehrenamtliche Froschmänner
Was wie eine Szene aus einem Kriminalroman klingt, ist in Venedig gelebte Realität. Die Taucherkolonne besteht aus Gondolieri, die normalerweise geschickt durch die engen Canali navigieren und Touristen durch die Stadt fahren. Doch einmal im Monat verwandeln sie sich in freiwillige Unterwasserretter, die Mull bergen, Gefahrenquellen beseitigen und damit das empfindliche Ökosystem der Lagune schutzen.
Ihre Geschichte erinnert unweigerlich an die Krimis von Donna Leon, deren beruhmter Commissario Brunetti seit Jahrzehnten in Venedig ermittelt. In mancher Fantasie könnte man sich vorstellen, dass die Taucher beim Reinigen des Wassers eine Leiche finden wurden, oder – noch gespenstischer – einzelne menschliche Knochenreste. Doch in der Realität stoßen sie weniger auf Verbrechen als auf die Hinterlassenschaften des Alltags, die uber Jahre und Jahrzehnte in den Kanälen gelandet sind.

Die Idee entstand im Roten Meer
Einer der erfahrensten Mitglieder der Gruppe ist Stefano Vio, 68 Jahre alt, Venezianer und leidenschaftlicher Taucher. Er berichtet, wie die Idee der monatlichen Reinigungsaktionen uberhaupt entstand. Im Jahr 2018 reiste er mit seinem Kollegen Alessandro Zuffi in den Sinai, um das beruhmte Wrack des britischen Frachters Thistlegorm zu betauchen. Das Schiff war 1941 von der deutschen Luftwaffe versenkt worden und zählt heute zu den größten Tauchattraktionen der Welt.
„Damals fragte ich mich, was wohl auf dem Grund unserer eigenen Kanäle liegt“, erzählt Vio. Während im Roten Meer Motorräder, Panzer und Munitionskisten aus dem Wrack ragten, ahnte er, dass auch Venedig eine verborgene Unterwasserwelt besitzt – wenn auch mit deutlich weniger historischem Glanz.
Von Autoreifen bis zu Haushaltsgeräten
Seit Beginn der Aktion hat die Gruppe Berge von Mull aus den Kanälen gezogen. Autoreifen zählen zu den häufigsten Funden – teils modern, teils alt und voller Muscheln. Doch neben dem Alltäglichen tauchen regelmäßig uberraschende Objekte auf: eine handgeschnitzte Holztur aus dem 19. Jahrhundert, ein Bidet, Teile alter Boote, einmal sogar ein Rindsschädel, vermutlich aus einer Großkuche oder von einem Marktstand.
Die Taucher wissen nie, was sie erwartet. Das stört sie nicht, im Gegenteil: Die Mischung aus Abenteuerlust und Liebe zu ihrer Stadt treibt sie an. Jede Aktion hat etwas Archäologisches, etwas Sportliches und auch etwas zutiefst Praktisches.

Mehr als nur Venedig – ein europaweites Phänomen
Solche Reinigungsaktionen finden in vielen Städten statt – von Berlin bis Wien, von Paris bis Amsterdam. Überall dort, wo Flusse oder Kanäle durch urbane Räume fließen, werden Tauchergruppen aktiv. Doch Venedig ist ein Sonderfall. Hier hängen Tourismus, Stadtgeschichte und Alltag so eng mit dem Wasser zusammen, dass die Reinigung der Kanäle nicht nur ökologisch notwendig, sondern auch symbolisch ist.
Eine Stadt, die auf Wasser gebaut ist, muss sich auch um ihr Wasser kummern.
Zwischen Romantik und Realität
Während Romanciers wie Donna Leon aus den Kanälen die perfekte Kulisse fur Verbrechen formen, zeigt die Realität eine andere Art von Drama: eines, das sich Tag fur Tag in Form von Umweltverschmutzung abspielt. Die Taucherkolonne macht sichtbar, was sonst verborgen bleibt – und erinnert daran, dass selbst die schönste Stadt Europas ihre Schattenseiten hat.
Doch genau darin liegt auch die besondere Magie dieser Initiative: Die Männer, die sonst Touristen uber die glänzende Oberfläche der Lagune fahren, tauchen hinab, um die Stadt vor dem zu schutzen, was sich darunter sammelt.




